Kurzbericht: Ein Zeitzeuge vom Burgholzhof erinnert sich an seine Jugend in Kriegszeiten
Am 23. September 2024 fand im Bürgerhaus zum vierten Mal ein „Salon unter dem Dach“ statt. Fritz Krause aus dem Mobile-Haus hatte dafür seine Erinnerungen an eine „Kindheit in Kriegszeiten 1939-1947“ aufgeschrieben. Er wurde im Mai 1939, wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, in Stuttgart geboren.
Für seinen präzisen und anschaulichen Bericht konnte er nicht nur auf seine Erinnerungen zurückgreifen, sondern auch auf Fotos und Aufzeichnungen seines Vaters, des aus Naumburg stammenden Installateurs Alfred Krause (Jahrgang 1906) und auf Briefe seiner Mutter Erna Krause (Jahrgang 1911), geb. Vöhringer, kaufmännische Angestellte. Seine Eltern lernten sich in Stuttgart bei einer Veranstaltung der sozialistischen Arbeiterjugend kennen. Es war ein sozialdemokratisches Milieu mit fürsorglichen Eltern, solidarischen Nachbarn und befreundeten Familien, an das er sich dankbar erinnert. Typisch für den Geist des sozialen Fortschritts war auch die Wohnumgebung in der Nibelungenstraße 1, heute in der Nähe des Egelsees gelegen. Krause lebte dort bis zu seinem Umzug nach Berg 1969. Der gewerkschaftlich geprägte „Bau- und Heimstättenverein“, der heuer sein 100-jähriges Bestehen feiern konnte, hatte die 72 Wohnungen in dem Gebäude 1928 mit modernen Heizungen, Küchen und Bädern ausgestattet. Besonders hob der Referent die freistehende Badewanne mit Löwenfüßen hervor. Er zeichnete das Bild einer behüteten Kindheit in bedrohter Umgebung: Kinder, mit denen er spielte, Tiere, Besuche bei Verwandten auf der schwäbischen Alb, Ausflüge mit der Straßenbahn. Den Hunger erwähnte er nur beiläufig. Die Eltern mussten erleben, wie sozialdemokratische Vereinigungen und Institutionen verboten und ausgeplündert und ihre Genossinnen und Genossen brutal verfolgt wurden. Sie schützten sich und ihr Kind durch Zurückhaltung und hielten Freundschaften mit Gleichgesinnten in privaten Zusammenkünften am Leben. Ab 1943 musste der Vater, der zunächst wegen Arbeiten für „kriegswichtige“ Firmen freigestellt war, mit der „Organisation Todt“ in der Sowjetunion Instandsetzungsarbeiten leisten.
Eingebrannt hat sich Fritz Krause der Krieg in Gestalt eines in Flammen stehenden Wohnhauses, vor dessen Anblick der Vierjährige panisch zurück in den Luftschutzstollen rannte. Die anhand von Büchern beschriebene weitgehende Zerstörung Stuttgarts musste er nicht miterleben, da er mit seiner Mutter nach Gschwend bei Gaildorf evakuiert war. Dort fehlte es nicht an bleibenden Eindrücken wie einem Schlachtfest, dem Badeweiher, weidenden Tieren, einem abgestürzten Jagdflugzeug und Süßigkeiten verteilenden GIs. Nach der Geburt des Bruders und dem Wiedersehen mit dem im Sommer 45 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassenen Vater ging es auf dem Lastwagen zurück nach Stuttgart Nord.
Die Schule hat Fritz Krause in guter Erinnerung, dank einer verständnisvollen Lehrerin aus der Nachbarschaft und dem „äußerst interessanten“ Weg zum Unterricht unter den Linden neben der Heilbronner Straße, mit Blick auf die riesigen Kohlehalden und Verladeeinrichtungen der Firma Trefz. Das verbotene Stöbern in den Ruinen nach Lesestoff und anderen brauchbaren Dingen gehörte zu den vor- und außerschulischen Beschäftigungen. In dem alten Gebäude, das heute ein Tatoo-Studio beherbergt, wurden damals Lebensmittel verkauft. Auch die altehrwürdige Schulturnhalle steht noch. Der Vater machte sich nach dem Krieg als Installateur selbstständig, mit Erna Krause als Büroleiterin. Er verfügte als einer von sehr wenigen über ein Auto, einen zum Lieferfahrzeug zurechtgesägten Opel, der auch für Ausflüge genutzt wurde.
Großen Eindruck machte auf den Achtjährigen im August 1947 der 1. Jugendtag der „Sozialistischen Jugendbewegung Deutschlands“ unter dem Motto „Frieden – Freiheit – Sozialismus“ mit 10.000 Teilnehmenden aus vielen europäischen Ländern in seiner Heimatstadt.
Fritz Krause verband die persönlichen Erinnerungen mit der allgemeineren Stadtgeschichte. Es war zu erfahren, wie sich der Stuttgarter Norden im 20. Jahrhundert verändert hat. Vor dem Bau z. B. der Friedrich-Ebert-Siedlung und der Kunstakademie, erstreckten sich bis hinauf zum Weißenhof Obstanlagen des berühmten Züchters Nicolas Gaucher (1846-1911), dessen Villa in den 60er Jahren abgerissen wurde.
Mit besonderem Nachdruck erinnerte Krause daran, dass Killesberg und Nordbahnhof zu Schauplätzen der Ausgrenzung und Verschleppung der von den Nationalsozialisten als jüdisch markierten Bewohnerinnen und Bewohner Stuttgarts wurden.
Wir hoffen, dass Fritz Krause dieser Geschichte weitere Kapitel hinzufügt und uns und möglichst auch die breitere Öffentlichkeit daran teilhaben lässt.
Günther Weinhart